Ahu Dural und die Kunst der Erinnerung

Am Kreuzberger Engelbecken empfängt uns Ahu Dural herzlich in ihrem Atelier – oder eher gesagt: in ihrer Wohnung, wo sie mit ihrem Mann und ihrem fünfjährigen Sohn wohnt. Ihr Arbeitszimmer liegt zwischen Flur und Küche und die längste Wand des schmalen Raums besteht aus einem riesigen „Wirrwar-Regal“ mit tausenden Büchern. Ahu verrät uns, dass sie Bücher total gerne mag, ob als Inspiration, Information oder auch einfach als Schmuck (ihr Mann sortiert die Bücher alphabetisch, Ahu findet das aber doof und ordnet sie viel lieber nach Farben).

In der gemütlichen, selbstgebauten Küche bereitet Ahu warmen Tee mit Honig für uns zu, während wir uns in ihrem Arbeitszimmer umsehen: Vor der Regalwand sind dicht an dicht Objekte (oder Skulpturen? Oder Möbel?) angeordnet, laminierte Fotografien hängen von Metall- und Holzgestellen, an der Wand haften Notizzettel, abstrakte Zeichnungen und Malereien. Der große Arbeitstisch ist übersät mit alten Familienfotos. Bei dem Anblick wird uns schnell klar, dass Ahu nicht „Malerin“, „Bildhauerin“, „Designerin“ oder „Forscherin“ ist, sondern eben von allem ein bisschen.

Dass sie Künstlerin werden wollte, wusste Ahu schon als sie fünf war. Sie ist sehr froh über ihre Entscheidung, auch wenn sie sich manchmal etwas einsam fühlt. Sie erzählt uns, dass sie viel alleine arbeitet und eigentlich nur dann wirklich von Menschen umgeben ist, wenn sie ihre Arbeiten in einer Ausstellung zeigt.
Ihre Familie und ihre eigene Kindheit sind für Ahu besonders wichtig, beides dient ihr als Inspirationsquelle. Momentan schreibt sie zum Beispiel ein Buch über ihre Mutter, in dem sich Wahres und Ausgedachtes vermischen – ein Roman über eine Frau, die aus der Türkei nach Deutschland kommt und hier ein Leben für sich und ihre Familie aufbaut. Die Fotos auf dem Tisch helfen ihr dabei, sich an Geschichten zu erinnern und sich neue auszudenken. Sogar eine vergrößerte Kopie des Arbeitsausweises ihrer Mutter, die bei Siemens in Akkordarbeit Mikrochips zusammengebaut hat, finden wir hier.

Ahu selbst ist eine richtige Berlinerin, im Wedding geboren und in Moabit und Siemensstadt aufgewachsen. Neben den Familienfotos dienen ihr Ausflüge an die Orte ihrer Kindheit dazu, sich besser an die Vergangenheit zu erinnern. Zum Beispiel war sie vor zwei Jahren auf einem Spielplatz in Siemensstadt, wo sie als Kind häufig gespielt hat. Dort entdeckte sie ein Schaukelpferd, das sie in diese Zeit zurückversetzte. Im Atelier hat Ahu ihre Erinnerung dann in Objekte verwandelt, und zwar in Hocker mit der gleichen sattelförmigen Sitzfläche wie die des Schaukelpferds. (Einige von uns sitzen in diesem Moment buchstäblich auf einer solchen Erinnerung.)

Neben ihrer eigenen Vergangenheit und den Biographien – also Lebensgeschichten – ihrer Familie und anderer Menschen, findet Ahu vor allem Architektur interessant. Deswegen machen wir nach dem Atelierbesuch einen gemeinsamen Spaziergang um das Engelbecken, über das Ahu wirklich viel weiß: Der ehemalige Kanal wurde vor fast 100 Jahren zu einer Parkanlage mit indischem Garten (inklusive Buddha-Statue) umgestaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er jedoch mit Kriegstrümmern zugeschüttet. Danach diente der Ort als „Kontrollstreifen“ der Berliner Mauer, die am Becken entlang verlief. Erst in den 1990er Jahren wurde das Areal wieder freigelegt und die Parkanlage in ihren Ursprungszustand versetzt. Dass so eine turbulente Vergangenheit an diesem schönen und friedlichen Ort vergraben ist, können wir uns heute gar nicht mehr so richtig vorstellen. Ahu findet das aber wahnsinnig faszinierend. Sie interessiert sich sehr für die tausend Schichten und Geschichten Berlins und dafür, was sie über die Stadt und die Menschen, die hier leben und gelebt haben, erzählen.

Uns gefällt dieser Ort heute auf jeden Fall sehr gut – wir finden, dass es sich hier sogar „ein bisschen paradiesisch“ anfühlt. Wir ziehen los und halten die vielen Details, Springbrunnen und Blumenbeete mit analogen Kameras fest. Wer weiß, vielleicht wird jemand in ferner Zukunft unsere Fotos finden und sich mit ihrer Hilfe an dieses Paradies erinnern...

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