Spuren, Probleme und Lösungen suchen mit Nadia Kaabi-Linke

Es regnet in Strömen, als wir Nadia Kaabi-Linke in ihrem Atelier besuchen und im dritten Stock des Kreuzberger Hinterhauses müssen wir erst einmal trocknen. Nadia, die in Tunis geboren wurde, überrascht uns damit, dass sie fließend Russisch spricht. Für uns, eine Klasse aus der Ukraine geflüchteter Kinder, ist das ein Segen. Endlich können wir all unsere Fragen stellen!

Nadia stellt uns ihren Mann Timo vor, die beiden bilden ein Kollektiv und arbeiten an vielen Werken gemeinsam. Auch ihr Sohn ist da, der in unserem Alter ist. Seinen Namen Mika-Akim kann man vorwärts und rückwärts aussprechen. Mika-Akim wird später bei Nadias Präsentation ihrer Werke noch einen ganz besonderen Auftritt haben.

Wir stellen Nadia und Timo viele Fragen, reden über Kinder und Hunde (sie hätte gerne einen, aber da sie halb in Berlin und halb in Kiew leben, ist das schwierig) und dann darüber, warum sie Kunst machen und wie. Meistens, sagt Timo, stellen wir uns Fragen und denken darüber nach – nicht mit Worten, sondern mit der Kunst. Nadia erklärt, dass es für sie immer um Dinge geht, die sie nicht versteht, denn die Beschäftigung damit öffnet Diskurse und den Geist.

Zum Beispiel die Installation Remont, die 2019 in Kiew gezeigt wurde. In der Ukraine funktioniert vieles nicht, es gibt unendlich viele Baustellen. Bei Remont hat Nadia die Reparatur von Kopfsteinpflaster nachgebaut. Sie hat die Steine als Metapher für Instabilität und Unsicherheit lose auf dem Boden verteilt und die Einfassungen der Steine an der Wand aufgehängt. Sie hat also, was eigentlich zusammengehört, getrennt: Das Problem (die losen Kopfsteine) und seine Lösung (die Einfassung, die den Steinen Halt gibt). Manchmal, sagt sie, ist es besser, ein Problem und seine Lösung getrennt zu betrachten, und nicht immer geht es darum, um jeden Preis eine endgültige Lösung zu finden.
Nadia und Timo beobachten, dass wir in den verschiedenen Ländern unterschiedlich mit Problemen umgehen. In Deutschland werden Straßen sehr stabil gebaut und solide repariert, uns ist wichtig, dass alles, was wir machen, lange hält. In der Ukraine werden Probleme oft schnell und oberflächlich gelöst, etwas wird repariert, aber so, dass es nach kurzer Zeit wieder kaputt geht. Aber das ist nicht unbedingt schlechter. Im Gegenteil: In der Ukraine sind die Menschen es gewohnt, schnelle, unkomplizierte Lösungen zu finden, sie sind einfallsreich. Das hat sich auch während der Corona-Pandemie und dem Krieg gezeigt: Auf einmal gibt es schnelles Internet und eine schnelle Verteidigung gegen den Angriff aus Russland. In Deutschland geraten alle in Panik, und es passiert lange erst einmal nichts, weil wir Angst haben, etwas zu tun, ohne schon sicher zu wissen, ob wir gerade an der besten, stabilsten aller Lösungen arbeiten.

Als wir sie fragen, wie viel Zeit sie der Kunst widmet, sagt sie: Alle Zeit! Aber natürlich steht sie nicht von morgens bis abends im Atelier und malt oder klebt oder bastelt. Die meiste Zeit, sagt sie, beschäftigt ein Kunstwerk sie im Kopf.

Es beginnt mit einer Idee, der sie dann nachgeht. Orte und ihre Geschichte(n) interessieren die Künstlerin besonders. Wenn sie Leute zu einem Ort befragt, dann erzählen die Menschen Geschichten, die sie niemals erwartet hätte und Nadia versucht, deren Spuren einzusammeln. Hierfür benutzt sie unterschiedliche Techniken und Materialien, zum Beispiel Kohle oder Staub. Das dürfen wir sogar selbst ausprobieren und mit Wachs und Tinte die Oberflächenstruktur eines alten Holzhockers auf Seidenpapier übertragen. Wie viele Füße wohl auf den Sprossen standen, deren Spuren wir jetzt auf dem Papier sehen?

Und dann zeigt Nadia uns ein großes Bild aus einer Ausstellung mit ihren Werken, das alles ein bisschen auf den Kopf stellt. Denn sie und ihr Mann als Kollektiv haben das Bild nicht gemalt. Aber sie haben Kunst daraus gemacht. Wir sehen roten Farbstift, eine abstrakte Zeichnung. Nadias Sohn Mika-Akim hat sie gemalt, als er zwei Jahre alt war. Aber wie haben die beiden daraus Kunst gemacht, und warum? Nadia sagt, Kinder sind ein Vorbild für sie, weil sie eine Offenheit des Herzens haben, neugierig sind, lebensfroh. Für Erwachsene, sagt sie, sei es wichtig, zu diesen Stärken zurückzufinden, die einem im Laufe das Lebens manchmal abhandenkommen. Sie versucht deshalb bei jeder Arbeit, einen neuen, unbekannten Blick auf etwas zu eröffnen.

Pale Geranium Lake and Canvas (Remastered), 2018 – Stift und Buntstift auf Papier auf Leinwand und Acryl, 275 × 195 cm © Courtesy: Nadia Kaabi-Linke, Foto: Mustafa Aboobacker 2018

Deswegen haben sie die Kinderzeichnung sehr stark vergrößert und auf eine Leinwand kopiert. Sieht man genauer hin, entdeckt man auf einmal Details: Auf der Struktur einer Linie, die Mika-Akim gemalt hat, kommen ganze Welten zum Vorschein. Auch scheint die Textur der Leinwand durch die Farbe und wird dadurch sichtbar. Eine von uns sieht auf dem Bild zuerst einen Gorilla, dann, als sie näher heran geht, Leute auf einem Planeten. Da fällt einer anderen ein, dass ihre Freundin eine Hand gemalt hat, und dann hat sie selbst das Bild gesehen und gefragt: „Ist das ein Dinosaurier?“ Auch die anderen haben alles Mögliche in der Zeichnung gesehen – nur nicht eine Hand!

Und das passt zu Nadias Arbeit mit der Kinderzeichnung. Sie spielt mit der Wahrnehmung von Kunst: Niemand weiß, dass es sich um ein Bild ihres zweijährigen Sohns handelt. Und wir wissen nie, was die anderen in einem Werk sehen – das ist ganz schön faszinierend.

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