Michael Weselys Zeitbilder

Heute sind wir an einem ganz besonderen Ort mitten in Berlin – direkt neben dem Brandenburger Tor. Hier, im Max Liebermann Haus, hat Michael Wesely gerade eine große Ausstellung mit hunderten von Bildern und sogar einem eigenen Fotostudio! Aber dazu später mehr, die vielen Fotos erzählen nämlich spannende Geschichten. Da gibt es zum Beispiel einen ganzen Raum mit Fotografien von der direkten Umgebung des Ausstellungshauses. Sie gucken Jahrzehnte in die Vergangenheit und zeigen, dass das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerstört war, wie die Trümmer abgetragen wurden, Bäume und Gemüsebeete wuchsen, die Berliner Mauer gebaut und wieder abgerissen wurde und das Gebäude schließlich wieder ungefähr so aufgebaut wurde, wie es früher aussah.

Bild eines Kindes vor Fotografien von Michael Wesely
Bild der Ausstellung von Michael Wesely im Max Liebermann Haus

All die Fotos hat Michael natürlich nicht selbst gemacht, bei den ganz frühen war er noch nicht einmal auf der Welt! Sie stammen aus einem Archiv – das ist eine große Sammlung von Bildern oder Gegenständen zu einem bestimmten Thema. Michael hat sich die Fotos in dem Archiv genau angeguckt und einige ausgesucht, die einen ähnlichen Ausschnitt zeigen. Seine Auswahl hat er dann in eine ganz lange Reihe gehängt und über jedes Bild verschiedene vergrößerte Ausschnitte daraus. Was Michael nämlich besonders spannend findet, ist nicht nur das, was ein*e Fotograf*in bewusst festhalten möchte, sondern auch all die anderen, beiläufigen und zufälligen Dinge, die im Hintergrund passieren. Oft erzählen diese geheimen Geschichten nämlich viel mehr über eine bestimmte Zeit oder einen Ort als das eigentliche Motiv: das kann die Mittagspause eines Bauarbeiters sein, der Streit eines Pärchens oder das tropfende Eis eines Kindes. Es sind die kleinen Alltagsmomente, denen Michael in seiner Arbeit eine Bühne – oder besser: einen Platz an der Wand – gibt.

Berühmt ist Michael aber eigentlich für eine ganz besondere Art von Fotografie, die einen bestimmten Zeitraum nicht auf vielen verschiedenen, sondern auf einem einzigen Bild festhält. Er hat nämlich eine Technik erfunden, wie er die Linse einer Kamera super lange offenlassen kann. Während dieser Zeit – in der Fotografie heißt das Belichtungszeit – brennt sich jede Veränderung und Bewegung auf ein Stück Negativfilm ein (das ist der aufgerollte braune Streifen, der in analogen Kameras steckt). Für seine Ausstellung hat Michael Kameras am Haus installiert, die das Treiben rund ums Brandenburger Tor festhalten. Die Ergebnisse können wir leider noch nicht sehen, aber in der Ausstellung hängt dafür ein Bild von einem Blumenstrauß, auf dem die einzelnen Blumen von der Blüte bis zum vollständigen Verwelken sichtbar sind. Oder ein Bild von einem Friedhof, das Michael über ein ganzes Jahr lang aufgenommen hat. Er erklärt uns, dass die Dauer durch die vielen Lichtstreifen am Himmel erkennbar ist – sie stellen die unterschiedlichen Sonnenstände dar, die sich über das Jahr hinweg verändern. So können wir auf einem einzigen Foto sogar die unterschiedlichen Bewegungen der Erdkugel sehen!

Bild einer Kamera, die an einem Gebäude angebracht ist
Michael Wesely beim Interview mit einem Kind vor einem seiner Werke

Das ist ganz schön beeindruckend und ein bisschen schwirrt uns auch der Kopf. Wie kam Michael denn auf so eine Idee?
Er lächelt stolz und gibt zu, dass er schon sehr lange Fotos macht – mit 14 hat er sich die Kamera seiner Mutter geliehen und mit 15 die erste eigene gekauft. Oft hat er von einer Situation ganz viele Fotos gemacht, weil jedes ja nur einen einzigen Moment abbilden kann. Diese Momente können ganz unterschiedliche Geschichten erzählen, zeigen aber eben immer nur einen Bruchteil des großen Ganzen. Deswegen fiel es ihm oft schwer, sich zu für eines zu entscheiden. Da fing er an, auszuprobieren, wie er so viele Momente wie möglich auf einem einzigen Bild einfangen kann, um der Wahrheit vielleicht ein Stückchen näher zu kommen.
Das möchte Michael dann auch mit uns ausprobieren: Wir stellen uns vor eine graue Leinwand und bleiben dort fünf Minuten stehen. Manche versuchen ganz still zu halten, damit sie möglichst klar auf dem Bild zu erkennen sind. Andere machen extra wilde oder kontrollierte Bewegungen, um zu sehen, was dabei passiert. Das letzte Klicken der Kamera ist auch eine kleine Erlösung – das waren vielleicht die längsten fünf Minuten unseres Lebens! Michael verspricht uns, dass wir das Bild in einigen Tagen bekommen und dann auch mit nach Hause nehmen dürfen. Wir sind schon sehr gespannt, was für „Wahrheiten“ Michaels Foto über uns zu erzählen hat!

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