Gedanken spielen Verstecken

Ausstellungstexte

Illustration von Karin Sander beim Interview in ihrem Atelier

Der Alltagszauber der Karin Sander

Wir fragen Karin in ihrem großen und hellen Atelier nach ihrem allerersten Kunstwerk. Das entstand 1962 (da war sie erst 5) und ihre Mutter hat Karins Performance „Wasser zählen“ sogar fotografiert. Die schwarz-weiß Fotos zeigen die junge Künstlerin, die ganz konzentriert Wasser aus einem großen Eimer mit einem kleinen Kännchen in einen Kanister umfüllt und dabei zählt.
Noch heute ist Karin so konzentriert bei der Arbeit und noch immer widmet sie sich oft ganz alltäglichen Dingen und Materialien. Ein gerahmtes Bild im Atelier zeigt zum Beispiel eine auf ein Papier getackerte Plastiktüte (Warum? Weil sie eine schöne Farbe hat, ganz einfach). Andere hat Karin mit unterschiedlichen Büromaterialien gemacht – Büroklammern, Locherkonfetti, Kugelschreibern. Künstlerische Arbeit ist für sie immer ganz frei, sagt Karin. Man begibt sich in gewisser Weise auf eine Reise, erlebt sehr viel Schönes auf dem Weg – und weiß davor nie, wie die Reise ausgeht oder wohin sie führt. Deswegen findet Karin, soll man einfach weiterarbeiten, wenn man keine Ideen hat, denn irgendwann kommen schon neue Ideen. Ganz von alleine. Und was bietet sich Naheliegenderes an, als sich (neu) mit den Dingen auseinanderzusetzen, die einen sowieso schon umgeben? Das hat viel mit Wertschätzung zu tun, einem wachen Blick und großem Interesse für die eigene Umgebung.
Hier im Haus Kunst Mitte hat Karin auch schon ihren Blick schweifen lassen und dabei die Spur von Tao entdeckt. Tao war der Königspudel der Hausgründer und hat beim Treppensteigen wieder und wieder mit seinem nassen Fell die Wand berührt. Wenn wir jetzt durch das Haus laufen, sind wir immer auf den Spuren des Hundes – und Karin erinnert uns mit ihrem Werk daran.

Illustration von Wie-yi T. Lauw

Hörende Steine und singende Kleider bei Ayumi Paul

Ayumi spielt Geige seitdem sie Kind ist, allerdings sind ihre Konzerte anders als die, die in großen Sälen vor vielen Menschen gespielt werden. Das Konzert, das Ayumi uns vorstellt, hat sie auf einem ehemaligen Tennisplatz gespielt und ihr Publikum waren 50 helle, runde Steine. Ayumi erklärt uns, dass Steine Musik vielleicht nicht mit Ohren hören, aber dafür fühlen können: Die Vibration der Musik versetzt die Luft in Schwingung und schreibt sich in alle Lebewesen und Objekte in der Umgebung ein. Steine sind Speicher von besonders vielen verschiedenen Klängen, Orten und Begegnungen, weil die meisten von ihnen schon sehr lange auf der Welt sind und deshalb bereits viel erlebt haben.
Doch nicht nur Steine, auch andere Objekte haben ihre ganz eigenen Geschichten. Ayumi zeigt uns ein großes und schweres Kleid, das aus unzähligen unterschiedlichen Stoffstücken besteht. Die Stoffe – oft Kleidungsstücke – hat Ayumi von verschiedenen Frauen zusammen mit einer dazugehörigen Geschichte geschenkt bekommen und das Kleid daraus genäht.
Das zusammengenähte Kleid dient Ayumi als Partitur, also als Vorlage für ein Musikstück, das viele verschiedene Stimmen zusammenbringt. Für jedes geschenkte Stück Stoff hat Ayumi ein Lied geschrieben, sodass das Kleid ein ganzes Konzert in sich trägt. Wenn Ayumi das Konzert spielt, trägt sie die Partitur am eigenen Körper, auch wenn sie sehr schwer ist durch all die Stoffe und Geschichten.

Illustration von Nicole Wendel beim Interview in ihrem Atelier

Nadine Schemmanns Farbgefühle

Nadine hat ursprünglich Design studiert und dann als Illustratorin für Modemagazine und Werbeagenturen gezeichnet. Dabei hat sie anfangs hauptsächlich am Computer gearbeitet und Pinsel und Farbe eher behutsam eingesetzt. Inzwischen macht sie gerne abstrakte Malereien, die sie in Kunstausstellungen zeigt. Nadine erzählt, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, mit einer neuen Arbeit anzufangen. Sobald die ersten Tropfen auf dem Stoff zerfließen, kann sie allerdings oft gar nicht mehr aufhören. Deswegen will sie noch ganz lange Kunst machen. (Mindestens bis sie Oma ist!) Aber was hat es mit all den wabernden Formen und fließenden Farbfeldern auf sich?
Nadine verrät uns, dass sie schon als Kind Farben gesehen hat, wenn sie Menschen begegnet ist oder Musik gehört hat (diese besondere Fähigkeit, bei der sich unterschiedliche Sinneseindrücke vermischen, heißt übrigens Synästhesie). Früher dachte sie, das sei seltsam und wollte deswegen mit niemandem darüber sprechen. Nach und nach hat sie sich aber mit dieser besonderen Fähigkeit angefreundet und sich dazu entschieden, ihre Farbeindrücke zu sammeln und festzuhalten. Manche der bemalten Stoffe spannt sie auf Keilrahmen, während sie andere nur an einem oder zwei Punkten befestigt. Sie schweben dann wie geisterhaft fließende Skulpturen an der Wand oder in der Mitte des Raums und zeigen nur einen Bruchteil der Malerei. Durch die Kombination der aufgespannten und skulpturalen Arbeiten ergibt sich dann ein Ganzes, sagt sie – denn auch wenn wir uns begegnen, gibt es immer etwas Festes, Angespanntes und etwas, das fließt und ganz weich und entspannt ist.

Illustration von Nadia Kaabi-Linke

Auf den Künstlerpfaden von Christian Jankowski

An den Wänden in Christians Atelier hängen verschiedenste Fotografien und ein Teppich, in den mysteriöse Zeichnungen eingewebt sind. Der sieht aus wie eine Schatzkarte! Christian verrät uns, dass es mehrere dieser Teppiche gibt und dass die Zeichnungen Wegbeschreibungen sind, die er auf seinen Reisen gesammelt hat. Ein Teppich führt zum Beispiel zu einem Strand in Mexiko. Auf dieser Reise hat er auch den Teppichweber kennengelernt, was ihn auf die Idee gebracht hat, die Skizze in Form eines Teppichs festzuhalten. „Künstlerpfade“ nennt er sie.
Was Christian bei seiner Arbeit außerdem wichtig findet, ist Humor. Oft hilft er ihm dabei, traurige oder schwierige Dinge zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Am allertollsten findet er an der Kunst aber, dass man dabei keine Fehler machen kann, weil es – anders zum Beispiel als bei Grammatik oder Logik – kein richtig oder falsch gibt. Ein Thema, mit dem sich Christian besonders gerne beschäftigt, sind Denkmäler und Statuen von berühmten Personen oder Ereignissen. Im Atelier hängen Fotografien von Statuen, die von Menschen massiert werden. Bei einer anderen Arbeit hat er eine ganze Mannschaft von Gewichthebern damit beauftragt, historische Denkmäler im öffentlichen Raum anzuheben. Die sprichwörtliche Last der Geschichte wurde dabei veranschaulicht.
Ausgehend von der Idee des Denkmals sprechen wir darüber, wie wir uns selbst verewigen würden, worauf wir stolz sind oder was von uns in Erinnerung bleiben soll. Draußen setzen wir uns in Szene und halten unsere Posen auf Polaroid-Fotos fest: beim Angeln, beim Kicken, beim Malen oder bei der Rettung eines Schmetterlings in Not. Die Fotos findet Christian so toll, dass er sie in unseren Händen abfotografiert. Und jetzt hängen wir als Kunstwerk an der Wand!

Illustration von Anne Duk Hee Jordan beim Interview

Ethan Hayes-Chutes Träume aus Holz

Ethan erzählt uns, dass er in der Kunstakademie zwar Malerei studiert hat, aber schon als Kind sehr gerne Holz mochte. Er ist in den USA aufgewachsen und seine Mutter hat immer gerne Bücherregale und viele andere Dinge aus Holz gebaut. Mit 18 hat Ethan dann seine erste eigene Hütte gebaut. Seither sammelt er Holz, das er auf der Straße findet, auf Baustellen oder auf dem Sperrmüll, alte Möbel oder Latten. Neues Holz kauft er nie, weil er es spannend findet, dass jedes Stück gebrauchtes Holz seine eigene Geschichte hat – oft erinnern Nägeln, Schrauben oder Farbreste noch an deren früheres Leben. Ethan verwendet sie dann für seine Kunst und schreibt ihre Geschichte auf diese Art und Weise weiter.
Nun wollen wir aber wirklich wissen, was denn aus dem Holz entsteht – hier sehen wir nämlich in erster Linie Latten, die noch auf die Weiterverarbeitung warten. Das liegt daran, erklärt Ethan, dass die meisten seiner Kunstwerke gar nicht in sein Atelier passen würden und sie oft nur für einen bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort existieren. Das Projekt Camp Solong von Dafna Maimon und ihm ist beispielsweise ein Sommerferienlager, das bisher an vier verschiedenen Orten stattgefunden hat. Für jedes dieser Camps wird eine offene Holzhütte gebaut, in der acht Menschen drei Tage lang schlafen, kochen und essen können. Das Camp – also nicht nur die Hütte, sondern auch die Menschen und das, was sie während der drei Tage machen – ergibt dann ein lebendiges Kunstwerk. Ethan liebt Humor und Absurdität – das heißt, wenn Dinge ein bisschen verrückt oder abwegig sind und dem „normalen“ Lauf der Dinge widersprechen.

Illustration von Ilit Azoulay beim Interview in ihrem Atelier

Tusche, Flecken, Form bei Ali Kaaf

Ali ist in Syrien aufgewachsen und lebt seit über 20 Jahren in Berlin. In seiner Kunst benutzt er am liebsten Papier, „weil Papier fragil ist“, sagt er. Er malt mit Pinsel und schwarzer Tusche viele Flecken, die zusammen eine abstrakte Form ergeben. In manche Bilder brennt er sogar Löcher, die dann Teil des Kunstwerks werden. Abstrakt bedeutet, dass man in seinen Bildern keine bestimmten Figuren, Gesichter oder Dinge erkennen kann. Aber wir meinten dennoch immer etwas darin sehen zu können, z. B. einen Sternenhimmel oder eine Meeresküste von oben oder auch einen Hot Dog.
Ali stellt nicht nur Bilder her, sondern auch Skulpturen aus Glas und er dreht kurze Filme. Für ihn ist der wichtigste Aspekt in der Kunst: etwas zu riskieren. Freie Kunst bedeutet für ihn etwas Neues ausprobieren, auch wenn er nicht weiß, ob es gut wird. Der Herstellungsprozess und die vielen gescheiterten Versuche versteht Ali als notwendige Schritte auf dem Weg zum Ziel. 
Dazu erzählt er uns eine Geschichte: Es war einmal ein Kaiser im alten China. Er besaß einen schönen Hahn,  Bild haben wollte. Also beauftragte er einen Maler. Dieser sagte, dass er ein ganzes Jahr für die Zeichnung brauche. Nach einem Jahr rief ihn der Kaiser zu sich und verlangte das Bild zu sehen. Der Maler bat um Papier, Tusche und Pinsel. Innerhalb weniger Minuten malte er den Hahn so vollendet und schön wie der echte Hahn. Der Kaiser aber wurde zornig, wieso musste er ein ganzes Jahr darauf warten? Da nahm ihn der Maler mit in sein Atelier. Der Raum war behangen mit tausenden von Vorzeichnungen vom Hahn. Nur durch diese Übungen konnte er zum Schluss so sicher den Pinsel führen.
Für Ali sind alle Versuche niemals umsonst, sondern ein Teil seiner Kunst, die sich immer weiterentwickelt.

Illustration von Dafna Maimon

Im Stoffreich von Claudia Hill

Bei Claudia Hill laufen viele Fäden zusammen: Sie macht Performancekunst, Kostüm- und Bühnenbild, experimentellen Film, visuelle Kunst. Und vor allem arbeitet sie mit Stoff. Das sieht man ihrem Atelier auch an, denn überall gibt es schöne, besondere Textilien zu entdecken. Claudia hat schon sehr lange eine Vorliebe für Stoff und Textilien. In ihrem Atelier hängt ein gesticktes Bild eines Vogels, das sie mit 8 gemacht hat; da war sie in der 2. Klasse. Seitdem hat sie immer wieder gewebt, gestickt, gestrickt, genäht – und Bilder mit Stoff gemalt. Wir wollen wissen: Warum eigentlich Stoff?

Sie erzählt uns, dass sie immer wieder fasziniert davon ist, wie zart ein einzelner Faden ist, wie schnell er reißt und kaputtgehen kann. Wenn aber viele einzelne Fäden zueinander kommen und verwoben werden, bilden sie eine feste Einheit und sind sehr stark. (Dabei muss sie auch an uns Menschen denken und wie viel wir bewirken können, wenn wir uns zusammentun.) Auch ist das Besondere an Stoff für sie, dass alle Menschen (groß und klein, arm und reich) Textilien haben – weil Stoff überall ist. Am liebsten arbeitet Claudia mit Stoffen, die eine Geschichte haben, die sie geschenkt bekommt und weiterverwenden kann.

Illustration von Tomás Saraceno

Yorgos Sapountzis und die Stadt als Bühne

Yorgos kommt aus Athen, der Wiege des europäischen Theaters, was ihn mit Stolz erfüllt. Man spürt seine Faszination und Liebe fürs Theater sehr! Schon als Kind liebte er die Kunst, malte sehr viel und wusste, dass er einmal Künstler werden würde. Im Studium machte er ein Austauschsemester an der UdK in Berlin, das er dann für weitere 6 Monate verlängerte – und wieder verlängerte. Mittlerweile lebt er schon seit zwanzig Jahren hier! Wir fragen ihn, ob in so einem versteckten Atelier (denn seins liegt sehr versteckt) auch Kunst entsteht, die etwas versteckt. Daraufhin lacht Yorgos: „Ich verstecke nichts, ich zeige!“
In der Mitte des Raumes steht ein großes aus Papier gefertigtes Modell eines Amphitheaters. Es ist das Amphitheater in Epidauros auf Peloponnes, das als eines der ersten Theater der Welt gilt. Und hierfür hat Yorgos ein Bühnenbild gemacht. Yorgos erzählt uns, dass die Stadt für ihn eigentlich auch wie eine Bühne ist und wir, die wir uns darin bewegen, immer Teil einer großen Aufführung. Bei Yorgos wird die Erinnerung an eine Stadt und die Begegnungen mit ihrer Architektur zum Material, aus dem er Geschichten erzählt oder baut. In seinen Performances und Installationen tauchen alle möglichen Dinge auf, die ihm im Alltag begegnen. Denn Yorgos mag es Dinge zu finden und aufzuspüren, so wie die lebensgroße plüschige Figur eines Hundes, die zwischen seiner Kunst steht. Die hatte ein Tischler auf der Straße in Münster gefunden und wurde dann Teil einer Installation von Yorgos. Oder das Osterei, das in griechischer Tradition schon seit bestimmt sechs Jahren in einer Ecke ganz oben an der Wand hängt (und unseren aufmerksamen Augen nicht entgeht).

Illustration von Jeppe Hein

Ulrich Vogls “Erkenntnisgewinnkatalysatoren”

Ulrich macht es Spaß zu sehen, wie sich Objekte verwandeln und plötzlich etwas ganz anderes oder viele verschiedene Dinge bedeuten können, wenn man beispielsweise ihre Größe verändert. Er nennt die Objekte dann „Erkenntnisgewinn-Katalysatoren“. (Katalysatoren sind Maschinen oder Substanzen, die einen bestimmten Vorgang auslösen oder beschleunigen.) Ulrich möchte mit seiner Kunst – durch Überraschung oder Verwunderung – eine Erkenntnis in Gang setzen, durch die wir unsere Umwelt oder vielleicht auch uns selbst ein bisschen anders wahrnehmen. Dafür braucht es natürlich gute Ideen und Ulrich verrät uns, dass er manchmal, wenn er glaubt, eine besonders gute Idee zu haben, so aufgeregt ist, dass er dreimal aufs Klo muss. Manche Arbeiten mag er nach einer Weile aber auch nicht mehr so gern, weil er nur noch eine ganz bestimmte Sache darin erkennen kann statt viele verschiedene, und das findet er eher langweilig.
Besonders gern macht Ulrich Kunst aus Momenten oder Erinnerungen. Zum Beispiel hat er beim Zelten einmal beobachtet, wie die Sonne tanzende Schatten von Ästen auf die Zeltwand geworfen hat. Dieses Schauspiel fand er so faszinierend, dass er es immer bei sich haben wollte und direkt nachgebaut hat: Mit Hilfe einer Konstruktion aus einem Spiegel, etwas Klebeband, Ästen, Licht und einem Ventilator kann er die Schatten nun auf jede Wand werfen, die ihn gerade umgibt.

 

 

 

Illustration von Ana Prvacki beim Interview in ihrem Atelier

Vlado Velkovs Wirklichkeitserweiterungen

Am liebsten arbeitet Vlado mit anderen Künstler*innen zusammen. Häufig entstehen seine Kunstwerke zu zweit oder in einer größeren Gruppe. Er hat auch lange als Kurator gearbeitet. Das ist die Person, die Ausstellungen plant, sich Konzepte ausdenkt, Künstler*innen aussucht und sie dazu einlädt, Arbeiten zu einem bestimmten Thema oder an einem bestimmten Ort zu zeigen. Das kann in einem Museum passieren oder eben auch draußen, im öffentlichen Raum.
Genauso ungewöhnlich wie die Orte, die sich Vlado für die Präsentation der Kunst aussucht, sind häufig auch die Erscheinungsformen der Arbeiten. Im Kunst Haus Mitte können wir das Kunstwerk von Vlado mit bloßem Auge überhaupt nicht erkennen. Hier müssen wir mit Smartphone oder Tablet vor der Nase auf Entdeckungsreise gehen. Und tatsächlich passiert plötzlich etwas: buntes Laub wird vom Wind aufgewirbelt. Vlado erklärt uns, dass diese Technik AR oder Augmented Reality genannt wird. Das ist Englisch und bedeutet „erweiterte Realität“. Im Gegensatz zur Virtual Reality, in der man ganz und gar in eine digitale Welt abtaucht, legt sich AR wie eine zweite Ebene auf unsere Umgebung und verschmilzt mit ihr.

Wie-yi T. Lauw, Künsterlin des Versteckens

Wie-yi liebt es, Dinge zu verstecken oder zu verfremden. Das bedeutet, sie so sehr zu verändern, dass sie noch an ihren Ursprung erinnern, aber gleichzeitig auch viele andere Dinge bedeuten können, also „fremd“ geworden sind. Eigentlich versucht die Kunst ja meistens, Dinge zu zeigen, sie abzubilden und auszustellen. Warum macht Wie-yi dann genau das Gegenteil? Das hat verschiedene Gründe, sagt sie. Zum einen regen versteckte Dinge die Fantasie an und bringen uns dazu, selbst darüber nachzudenken, was sich hinter der Fassade verbirgt.
Vor allem geht es in Wie-yis Arbeiten aber um Identität, also darum, wer wir sind. Oft gibt es einen großen Unterschied zwischen der Art und Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen oder was unsere Biografie über uns sagt, und dem, was andere Menschen über uns denken, etwa aufgrund unseres Aussehens. Wie-yi selbst ist zum Beispiel in Wien geboren und spricht Österreichisch (Wienerisch ist ihre Lieblingssprache). Ihre Vorfahren kommen aber aus Indonesien und China und auch ihr Name klingt anders als die meisten deutschen oder österreichischen Namen. Das Wiener Standesamt behauptet sogar, ihren Namen gäbe es nicht. (Das ist natürlich Quatsch, weil Wie-yi heißt ja so.) Ihre eigene Identität ist also sehr komplex und wurde von verschiedenen Geschichten, Orten und Menschen geprägt. Auch viele Objekte erzählen komplexe Geschichten, werden aber häufig nur auf eine bestimmte Weise wahrgenommen oder „gelesen“. Durch das Verschleiern, Verstecken und Verfremden von diesen Dingen, versucht Wie-yi das Vielschichtige und Uneindeutige sichtbar zu machen.

Illustration von Ayumi Paul

Von Körpern und Spuren bei Nicole Wendel

In Nicoles Atelier hängen große Zeichnungen. Zwar sind sie oft wild und voller Bewegung, aber eines haben sie gemeinsam: Sie sind alle schwarz-weiß. Als wir Nicole fragen, warum das so ist, antwortet sie, dass sie manchmal so viel sieht und wahrnimmt, dass es dann eine Erleichterung ist, wenn sie nicht auch noch über Farben nachdenken muss. Dann wird die Welt ein bisschen einfacher. Wir finden heraus, dass sie schon mal ein paar kleine Bilder in Blau gemacht hat und verspricht uns Bescheid zu geben, wenn sie mal so richtig was mit Farbe macht. Und siehe da: Nach unserem Atelierbesuch hat Nicole geträumt, dass sie die Arbeit für die Ausstellung hier in Farbe – aus Naturpigmenten, also Farben direkt aus der Erde – machen wird.
Nicoles Zeichnungen zeigen keine Gegenstände oder Personen, sondern Spuren von den Bewegungen ihres Körpers. Das erste Mal hat sie über Spuren nachgedacht als sie noch sehr jung war: Sie ist Linkshänderin und hat lange ausprobiert, wie sich ein Strich verändert, wenn sie ihn mit links oder mit rechts zeichnet. Der Strich wurde zu einer Spur, an der sie auch im Nachhinein noch ablesen konnte, von welcher Hand sie stammt. Schließlich ist unser Körper an allem beteiligt, was wir tun.
Inzwischen zeichnet Nicole nicht nur mit ihren Händen. An der Wand sehen wir eine große Arbeit, die aus vielen Fußabdrücken besteht. Sie basiert auf einer Meditation, bei der man Schritte nach vorne, hinten, zur Seite macht. Damit kann Nicole gute Gefühle und Erinnerungen zu sich holen und die wegschieben, die sie hinter sich lassen möchte. Die Spuren dieser Meditation, also die Schritte, werden durch zahllose Fußabdrücke auf dem großen Blatt sichtbar. So zeichnet sie auch Träume, Tänze und andere Bewegungen und hält Zeitspannen in Schichten auf einem Bild fest.

Illustration von Nadine Schemmann

Spuren suchen mit Nadia Kaabi-Linke

Nadia stellt uns ihren Mann Timo vor, die beiden bilden ein Kollektiv und arbeiten an vielen Werken gemeinsam. Auch ihr Sohn ist da, der in unserem Alter ist. Seinen Namen Mika-Akim kann man vorwärts und rückwärts aussprechen. Mika-Akim wird später bei Nadias Präsentation ihrer Werke noch einen ganz besonderen Auftritt haben.

Als wir Nadia fragen, wie viel Zeit sie der Kunst widmet, sagt sie: Alle Zeit! Aber natürlich steht sie nicht von morgens bis abends im Atelier und malt oder klebt oder bastelt. Die meiste Zeit, sagt sie, beschäftigt ein Kunstwerk sie im Kopf.

Es beginnt mit einer Idee, der sie dann nachgeht. Orte und ihre Geschichte(n) interessieren die Künstlerin besonders. Wenn sie Leute zu einem Ort befragt, dann erzählen die Menschen Geschichten, die sie niemals erwartet hätte und Nadia versucht, deren Spuren einzusammeln. Hierfür benutzt sie unterschiedliche Techniken und Materialien, zum Beispiel Kohle oder Staub.

Nadia und Timo beobachten, dass wir in den verschiedenen Ländern unterschiedlich mit Problemen umgehen. In Deutschland werden Straßen sehr stabil gebaut und solide repariert, uns ist wichtig, dass alles, was wir machen, lange hält. In der Ukraine werden Probleme oft schnell und oberflächlich gelöst, etwas wird repariert, aber so, dass es nach kurzer Zeit wieder kaputt geht. Aber das ist nicht unbedingt schlechter. Im Gegenteil: In der Ukraine sind die Menschen es gewohnt, schnelle, unkomplizierte Lösungen zu finden, sie sind einfallsreich.

Illustration von Christian Jankowski beim Interview in seinem Atelier

In nicht-menschliche Welten abtauchen mit Anne Duk Hee Jordan

Dukhee arbeitet in ihren Werken oft und gerne mit Musik. Früher wollte sie eigentlich Rockstar werden, gibt aber zu, dass sie nicht diszipliniert genug war, um ein Instrument wirklich gut zu lernen. Später war das mit der Meeresbiologie ähnlich. An der Kunst gefällt ihr, dass sie Musikerin und Forscherin sein kann, Künstlerin und Biologin – eben alles zusammen und von jedem ein bisschen. Im Gegensatz zur Biologie und der Wissenschaft im Allgemeinen muss in der Kunst außerdem nicht immer alles rational, also logisch erklärbar sein. Obwohl sich Dukhee sehr viel und gern mit Biologie beschäftigt und häufig eng mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeitet, spielt in ihren Kunstwerken auch Fantasie eine große Rolle. Ihr gefällt besonders, dass man dabei einen anderen Blick auf die Welt entwickeln kann.
Wichtig ist Dukhee zum Beispiel die nicht-menschliche Perspektive. Aber was bedeutet das? Menschen können beispielsweise den Gesang von Walen nicht so wahrnehmen wie Unterwasserwesen. Auch die vielfach vergrößerten, verzerrten und teilweise erfundenen Formen der leuchtenden Lebewesen an den Wänden der Stoffhöhle sollen den menschlichen wissenschaftlichen Blick auf andere Lebensformen in Frage stellen. Schließlich ist die Tiefsee – genau wie das Weltall – ein Ort, der vielfach erforscht ist und trotzdem die größten Geheimnisse birgt. Und das Schöne an den Dingen, über die wir noch nicht alles wissen, ist, dass wir uns so einiges dazu ausdenken können.

Illustration von Ethan Hayes-Chute

Auf Spurensuche bei Ilit Azoulay

Ilit Azoulay kommt aus Israel und sie hat Fotografie studiert. (Ihre erste Kamera war ein Geschenk von ihrem Großvater, lange vor dem Studium. Ob er wohl geahnt hat, dass Ilit ein großes Talent für Fotografie besitzt?!) In ihrem Atelier in Schöneberg baut sie – hauptsächlich am Computer – Collagen aus abertausenden Fotos zusammen, wie ein Mosaik. Das dauert teilweise Jahre, so aufwändig ist das. Manchmal integriert Ilit auch Sound zu den Collagen. Die Bilder von Ilit erzählen Geschichten. Geschichten, über die Ilit eigentlich nicht reden darf – nur mit ihrer Kunst. Die Geschichten wurden ihr von Personen anvertraut, die tolle Erzähler*innen sind und über ganz viel Wissen verfügen, das sonst kaum jemand weiß.
Nachdem sie den geheimen Erzählungen gelauscht hat, recherchiert Ilit ungefähr ein Jahr lang Gegenstände zu den Geschichten und fotografiert sie. Damit sie nichts vergisst und den Überblick über die Gegenstände und Geschichten behält, hängt sie Steckbriefe der Objekte an die Wand und macht sich Notizen zu den Fotos: kurze Texte auf hebräisch, bunte Aufkleber mit Buchstaben und Zahlen drauf wie ein Geheimcode… Sie hat sich ihr ganz eigenes System ausgedacht!
Wir sind wie Detektiv*innen vorgegangen und haben versucht die Spuren zu lesen. Welche rätselhafte Geschichte steckt hinter dem Werk mit dem Affen? Wir sind auf ganz viele abenteuerliche Ideen gekommen. Ob wir mit unseren Vermutungen richtig liegen? Ilit lächelt freundlich – und hüllt sich in Schweigen.
Die Kunst ist voller Geheimnisse!

Illustration von Ali Kaaf

Dafna Maimons Körper-Gefühlswelten

Dafna Maimons Atelier ist von eigenartigen Wesen bevölkert: Auf den Zeichnungen an der Wand drängen sich wabernde und wulstige Formen, die mit Augen und anderen Körperteilen versehen sind; mitten im Raum thront ein riesiger Bauch, der aussieht wie ein Kissen; und auf einem Tisch sind knubbelige Zehen aufgereiht, die aussehen, als wären sie aus Stein. Überall hängen, liegen, warten Objekte, Kostüme und Werkzeuge scheinbar darauf, ausprobiert und angefasst zu werden. Doch Malerei und Skulptur sind nur der Anfang. Dafna erzählt uns, dass sie auch viel mit Film und Performance arbeitet.

Dass der menschliche Körper in Dafnas Kunst eine wichtige Rolle spielt, wird schnell klar. Doch der Künstlerin geht es nicht in erster Linie darum, Körperteile wirklichkeitsgetreu nachzubilden. Vielmehr versucht sie, durch ihre Kunst die Beziehung zwischen unseren Körpern und unseren

Gedanken und Gefühlen zu erforschen und damit zu spielen. Das kann beispielsweise eine Erinnerung an ein körperliches Gefühl sein oder unsere emotionale Beziehung zu verschiedenen Körperteilen.

Zum Beispiel findet es Dafna total spannend, dass sich viele Menschen für bestimmte Körperteile schämen. Oft sind das zum Beispiel Brüste oder andere Geschlechtsteile, aber auch Füße und Zehen sind häufig mit Scham behaftet.

Illustration von Claudia Hill

Tomás Saraceno: Traumtänzer und Spinnenflüsterer

Im Garten von Tomás Atelier steht ein Modell eines Gebäudes, das gebaut werden soll. Fünf vieleckige Miniräume sind über- und nebeneinander gestapelt und sehen aus, als wären sie hervorragend geeignet für einen Spielplatz. Sogar Netze sind gespannt, auf denen gehüpft werden kann. Drinnen gibt es ein sehr viel kleineres Modell, an dem wir sehen können, dass am Ende 60 der Miniräume ineinandergeschachtelt werden sollen. Fällt das denn nicht um? Nein, und genau solche Projekte liebt Tomás besonders – er hat an verschiedenen Orten auch schon Würfel in den Himmel gehängt, die aussahen, als würden sie schweben. Natürlich ist alles sicher und befestigt, sodass niemandem etwas passieren kann. Aber das Staunen über die Konstrukte, denen die Schwerkraft scheinbar ganz egal ist, haben die Arbeiten alle gemeinsam.
Im Atelier gibt es auch ein Labor, wo es deutlich wärmer ist. Viele der Laborbewohnerinnen kommen aus den Tropen – wir sind im Reich der Spinnen! Hier treffen wir Tomás, der fast platzt vor Begeisterung über die Tiere, die kunstvolle Netze weben. In einem riesigen Gestell haben verschiedene Spinnen eine ganze Stadt gebaut – große und kleine, dichte und löchrige, weiße und goldene Netze sind hier auf-, unter- und nebeneinander gewebt (ganz verschachtelt, wie die Miniräume am Anfang). Anhand des Aussehens der Netze kann Tomás sogar erkennen, welche Spinne am Werk war. Doch im Labor wird nicht nur über, sondern auch mit Spinnen gedacht und geredet: Tomás packt Stimmgabeln aus, von denen jede den Ton eines bestimmten Insekts nachahmt, wenn sie angeschlagen wird. Wenn wir mit der klingenden Gabel vorsichtig das Spinnennetz berühren, dringt der Ton in Form von Vibration (denn Spinnen haben keine Ohren) bis zur Bewohnerin des Netzes durch. Die Spinne denkt, es sei Beute ins Netz gegangen und nimmt schnurstracks die Fährte auf.

Illustration von Yorgos Sapountzis

Jeppe Hein und die Kunst des Spielens

In der Ausstellung von Jeppe ist es ganz anders als im Kunstmuseum. Hier dürfen wir in Boxen greifen, Gegenstände fühlen (Kreide!) und Tropfen riechen (Zitrone!). Zwar hängen auch Bilder an der Wand, aber die sind keineswegs nur zum Anschauen da: Sie bestehen aus leeren Kreisen, in die wir zeichnen, wie wir uns gerade fühlen. Im Jahr 2009 hatte der Künstler einen Burnout und begann ein Aquarelltagebuch, um seine Atmung wieder kontrollieren zu können und durch ein spontanes Selbstportrait jeden Tag herauszufinden, wie er sich fühlt. Das machen wir jetzt auch und verpassen der Ausstellung viele lachende Münder und riesige Zahnreihen, aber auch ein paar hochgezogenen und gekräuselte Augenbrauen.
Jeppe möchte die Menschen mit seiner Kunst überraschen (und wir erfahren, dass er Überraschungen liebt und Partys am liebsten heimlich vorbereitet). Und er möchte, dass die Leute mit anderen über seine Kunst sprechen oder über die Gefühle und Ideen, die sie bei ihnen auslöst. Deswegen steht ein Großteil seiner Arbeiten auch auf öffentlichen Plätzen, so dass sie möglichst viele Menschen sehen können, auch ohne ins Museum zu gehen.
Außerdem ist Jeppe wichtig, dass die Menschen mitmachen bei seiner Kunst. Zum Beispiel baut er gerne Bänke, die eine Lücke in der Mitte haben oder aussehen wie ein Looping. Dass Kinder die Kunstwerke zum Skaten benutzen, findet er gut. So werden sie Teil der Stadt und des Lebens ihrer Bewohner*innen. Das mit dem Mitmachen finden wir auch klasse und probieren das an einer großen roten Straßenlaterne aus, die nicht gerade, sondern in sich verdreht ist. Einer von uns kommt sogar ganz oben an. Kunst kann nicht nur schön sein, sondern auch richtig Spaß machen!

Illustration von Jeppe Hein

Ana Prvački, die Bienenkönigin

Dass Ana Künstlerin werden wollte, war ihr eigentlich schon immer klar. Ihre Mutter ist Keramikerin und als Kind durfte Ana den trockenen Ton in der Badewanne mit viel warmem Wasser wieder lebendig kneten. Das fand sie super. Außerdem hat sie irgendwann angefangen, Miniversionen von all den Keramikobjekten zu machen, die ihre Mutter gefertigt hat. Das sah bestimmt ziemlich lustig aus und wir erfahren, dass Humor noch heute ein fester Bestandteil von Anas Kunst ist. Auch ihr Vater war Künstler und beide ihre Eltern haben sie immer dazu ermutigt, viel zu spielen, andere herauszufordern und auch manchmal etwas frech zu sein. Und das bedeutet Kunst für Ana bis heute: Spielen findet sie vor allem für Erwachsene wichtig und sie ist fest davon überzeugt, dass das immer ein guter Anfang ist, um große Probleme zu lösen.
Tiere und unsere Beziehungen zu ihnen spielen in Anas Kunst eine große Rolle, zum Beispiel unser Verhältnis zu Bienen. Auch das liegt schon seit langem in der Familie – als Anas Ururururgroßmutter ihren Ururururgroßvater geheiratet hat, hat sie ein Bienenvolk mit in die Ehe gebracht. Seitdem wird es von Generation zu Generation weitergegeben. Als Anas Großvater gestorben ist, hat er ihr 500 Kilo Honig vererbt sowie eine alte Honigwabe, die wir sogar anfassen dürfen! Ana selbst ist nicht Imkerin geworden, aber setzt sich in ihrer Kunst viel mit Bienen auseinander. Außerdem verrät sie uns, dass sie sich inzwischen selbst ein bisschen wie eine Biene fühlt – die Insekten lieben es, so viele unterschiedliche Pflanzen wie möglich zu bestäuben und auch Ana ist am glücklichsten, wenn sie an vielen verschiedenen Projekten arbeitet und immer neue Dinge kennenlernt.

Illustration von Vlado Velkov